Meinhard Ansohn
Verwandlungen - für Musik
eine Kleinigkeit


Kleine Schritte zum Verständnis einer großen Kraft

Je sensibler wir für Musik sind, desto mehr machen wir die Erfahrung, dass Musik uns verwandeln kann. Auch dass sie sich selbst verwandeln kann - allmählich oder schlagartig. Sie kann Verwandlungen, denen die Dinge dieser Welt andauernd unterworfen sind, klanglich begleiten. Schulischer Musikunterricht kann die Sinne dafür schärfen.


Das Musikprogramm, das wir Grundschulkindern anbieten, soll abwechslungreich sein, damit sich Interesse nicht in Langeweile verwandelt. Es soll bewegt sein, damit Körper und
Sinne angeregt bleiben und kindliche Lust amAusprobieren sich nicht in verkümmerte Haltungen verwandelt. Es soll viele Lieder und Tänze enthalten, die den Raum in eine musikalisch geordnete Schwingung verwandeln. Und es soll Programmmusik enthalten, jene Musikstücke, die von der sich verwandelnden Welt erzählen. Hier soll die Rede vom Inneren der Musik sein, von etwas, an das man sich vielleicht nicht immer herantraut, weil es zu abstrakt für die Kinderwelt scheint. Alle Übungen, die hier beschrieben sind, wurden ausprobiert und weckten die Neugier von Kindern, die für den "Stoff", aus dem Musik gemacht ist, noch offen sind.



Klang - Rhythmus - Melodie - Harmonie

Ohne Klang gibt es keine Musik. Klang ist eine der Grundvoraussetzungen für Musik. Übungen zur Veränderung von Klang lohnen sich, um dieses Phänomen überhaupt wahrnehmen zu können. Klang, der zeitlich strukturiert ist, hat Rhythmus, kommt aus der Bewegung und erzeugt Bewegung. Rhythmus, der sich verändert, verwandelt die Zeitwahrnehmung. Übungen zur Veränderung von Rhythmus sind gut für die Psychomotorik, für das, was man Tanzen nennt und vieles mehr. Melodie, das Variieren von Tonhöhen in rhythmischer Gestalt, verbindet sich manchmal mit Erinnerung. Kleine Übungen zur Verwandlung von Melodien vergrößern unseren musikalischen Schatz und unsere Empfindung. Harmonie, die Königin der europäischen Musik seit 1700 und oft missverstanden als das Herrschende über alle nicht harmonisch gemeinten Musiken in anderen Kulturen, ist das, was als spannungsvoller Mantel um die meisten unserer
Melodien gehüllt ist. Noch nicht einmal Hänschen Klein kommt ohne mitgeahnte Dur-
Dreiklänge aus, keine Beethoven-Fünfte ohne starkes Moll-Fühlen. Kleine Übungen zur Verwandlung von Harmonie geben uns Eindrücke vom Erlebnis Musik und zum Verständnis dafür, wie speziell die Musik sich und uns verwandeln kann.


Klang

Bei Wikipedia wird Verwandlung definiert als ein "Wandel des Wesens durch Veränderung
seines Äußeren oder Inneren". Was aber ist das Wesen des Klangs? Wie können wir daran
rühren ohne wissenschaftliche Klimmzüge anzustellen? Wo lassen sich Veränderungen von Klang gut wahrnehmen und wie können wir selbst Verwandlungen des Klangs gestalten?

Stimmklang verwandeln

Das seit etwa 80 Jahren bekannte Lied von den drei Chinesen mit dem Kontrabass kann uns zu einigen klanglichen Verwandlungen der Stimme führen. Wir probieren das Lied erst einmal mit je einem Vokal so aus, wie man es seit über 70 Jahren singt. Sind das schon alle unsere Möglichkeiten? Nein, die Stimme kann mehr. Wir singen auf "U", so wie ein Riese in einer Riesenhöhle singen würde. Und dann wie ein Zwerg in einem Zwergenhäuschen. Und dann - verzaubern wir den Riesen. Er fängt mit dem großen "U" an und wird während der Strophe immer kleiner, bis wir fast nur noch durch die Nase singen. Jetzt passt der Riese ins Zwergennest. Mit dem "A" ist das viel schwerer, denn der Mund ist offener und der Klang ist schwerer zu kontrollieren. Aber es geht. Der Klang unserer Stimme kann sich verwandeln, wenn die Lippen, die Zunge, der ganze Mund und unsere Körperkraft mithelfen. Besonders gut können wir das nachvollziehen, wenn eine Hälfte der Gruppe singt und die andere auf Veränderungen achtet. Wenn wir uns danach Vokalmusik anhören, haben wir vielleicht für eine kurze Zeit ganz deutliche Assoziationen dazu, wie der jeweilige Sänger oder die Sängerin singen.

Klänge beim Spaziergang der Schlägel über Instrumente

Ganz anders können wir Verwandlungen an unseren Instrumenten erleben, wenn wir einen
großen Gong haben oder Trommeln mit relativ großen Fellen. Was passiert, wenn ein Schlägel vorsichtig vom Rand zur Mitte hin spaziert und wieder zurück? Wird er vom Zwergennest zur Riesenhöhle kommen oder umgekehrt? Das darf einfach jeder ausprobieren, aber nacheinander! Wir werden das Phänomen erleben, dass die großen Trommelfelle, etwa der Djembe, der Conga oder der Darbukka, am Rand "heller" klingen als in der Mitte. Auch beim großen Gong ist das so. Sogar Gitarrensaiten klingen in der Mitte angeschlagen voller als wenn man sie am Rand zupft. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Bei allem, was gespannt ist, scheint aber die Mitte am nachgiebigsten zu sein. Obertöne sind am Rand am deutlichsten zu hören. Das zu verstehen, setzt einiges an Physik voraus. Probieren und staunen sind am Anfang aber allemal den Versuch wert.

Mit Klang Klang erweitern - und Klänge in Klängen verstecken

Wenn wir ein paar Stabspiele haben, können wir Melodien spielen. Nehmen wir die einfachste Melodie, die wir alle spielen können, in der Adventszeit z. B. den Anfang von Morgen kommt der Weihnachtsmann. Unsere Ohren sollen forschen: Erst vergewissern wir uns, dass wir wirklich zusammenspielen - alle gleichzeitig die selbe Melodie. Wir spielen
sie mehrmals. Dabei probieren wir eine Reihenfolge aus: EineR fängt an, beim zweiten Mal kommt ein zweites Instrument dazu usw. Wie klingt es, wenn nach einem Metallofon ein weiteres Metallofon dazu kommt? Was verändert sich, wenn ein Xylofon dazu kommt? Und wenn ein Glockenspiel mitmacht? Wir werden feststellen, dass manche Instrumental-
Sounds im Klang der anderen enthalten sind und den Gesamtklang deswegen kaum
verändern. Spielen wir dann eine andere Reihenfolge, kann schon das zweite Instrument
alles verändern. Laute Klänge überlagern leise, lange Klänge überlagern kurze. Aber leise Klänge geben eine neue Farbe und kurze Klänge machen den Gesamtklang "knackiger". Alle spielen und wir lassen etwas weg. Auch das Weglassen verwandelt den Klang. Genau
das - Hinzufügen und Weglassen - machen auch Musiker, die mit Computern arbeiten. Wenn wir mit den Instrumenten ganz vorsichtig spielen, können wir genau so feine Veränderungen selber spielen und hören. Wie viel Verschiedenes - Tiefes und Hohes oder
Dunkles und Helles - in einem Klang enthalten sein kann, lässt sich gut hören, wenn wir eine Abspielanlage mit regelbaren Höhen und Tiefen haben. Mit diesen Knöpfen verändern wir nur den Klang, nehmen etwas weg und tun etwas dazu ohne die Musik selbst zu unterbrechen. Trotzdem verwandelt sich der Stoff, aus dem Musik ist: der Klang.

1 Morgen komt der Weihnachtsmann                           

  Spiele den Anfang von Morgen kommt der Weihnachtsmann mehrmals hintereinander.
  Spiele mit den anderen zusammen: Ein Instrument fängt an, beim zweiten Mal kommt ein zweites Instrument dazu usw.
  Wie klingt es, wenn nach einem Metallofon ein weiteres Metallofon dazu kommt? Was verändert sich, wenn ein Xylofon dazu kommt? Und wenn ein Glockenspiel mitmacht?


Rhythmus

Unser Rhythmus im Tageslauf verändert sich oft, obwohl vieles vorgegeben ist. Aufstehen, Essenszeiten, Schulstunden, Freizeiten, Zubettgehen, alles ist im Großen und Ganzen ähnlich und im Kleinen doch täglich anders. Die Musik macht es genauso. Mag ein Puls, ein Metrum oft gleich bleiben, sind doch die Kleinstrhythmen verschieden, mal sind Versatzstücke anders als vorher oder bleiben aus, mal machen sie Pause oder kommen verändert wieder. All das können wir an Musik "er-hören", wenn wir uns die Frage stellen: Wann und wie verwandelt sich Rhythmus in einer Musik?

Pflaumenbaum – Zeitmaße überlagern sich

Ein einfacher Vierer-Takt:
"Pflaumenbaum Pause". Wir sprechen, lassen das Wort
"Pause" weg und übertragen den Takt auf
Rhythmusinstrumente, z. B. Trommeln.

Fast ein einfacher Dreier-Takt:
"Pflück dir eine Pause". Wir sprechen und übertragen
den Takt auf Klanghölzer o. ä.

Fast ein einfacher Fünfer-Takt:
"Dieses Jahr ist er voll Pause". Wir sprechen und
übertragen auf eine Kuhglocke o. ä.
(Achtung: leise spielen!)

Alle Takte mit Weihnachtstext:
"Weihnachtsbaum" (Vierer), "Dieses Jahr wird er schön" (Fünfer), "Schmück dir einen" (Dreier)
Schwierige Kombination: Wir sprechen oder spielen zwei oder drei Rhythmen gleichzeitig.
Warum ist das schwierig? Weil sich verschiedene Zeitmaße zu behindern scheinen. Das ursprünglich einfache Gefühl des symmetrischen Vierers wird verwirrt. Etwas verwandelt sich. Sollten wir es schaffen (eventuell mit einer 4. Klasse) mit genug Lust und Ausdauer alles gleichzeitig locker spielen zu können, verwandelt sich übrigens wieder etwas. Unser Rhythmusempfinden erlebt eine neue komplexe Gestalt. Wenn nicht, ist auch die Verwirrung ein Anlass zum Nachdenken, nicht zum Fehlerverteufeln!




Ist da - ist weg - ist anders

Klick tscha - ein Rhythmusstückchen im Vierertakt.
Mit Hilfe der beiden Hörbeispiele können wir einige der Rhythmen sprechen und vielleicht auch spielen. Dann hören wir den Song von Taio Cruz und versuchen unsere Rhythmen wiederzufinden. Manche hören sich sehr ähnlich an. Sie sind versteckt und ineinander verschachtelt. Andere sind ganz anders. Manchmal wird in der Percussion unterbrochen. Wie viel finden wir so wieder, dass wir den Song rhythmisch sprechend oder spielend begleiten können? An welchen Stellen verwandelt sich der Rhythmus so, dass das Lied ganz anders wirkt als vorher?

3 Klick tscha                                                    



Melodie

Unendliche Beispiele von Verwandlung von Melodien finden wir in der mündlichen Überlieferung von Volksliedern. Mein Professor sagte früher: "Ein richtiges Volkslied ist es erst, wenn es mindestens vier Varianten gibt." Kein Richtig, kein Falsch: Wir hören verschieden, geben verschieden weiter und so bleiben die Lieder lebendig.

Eine komponierte Verwandlung von Melodie

Ein berühmtes Beispiel für die Verwandlung einer Melodie ist die - gleichzeitig auch harmonische - Verwandlung des Lieds Bruder Jakob bei Gustav Mahler. Wie viele Stellen findest du verwandelt wieder, wenn du nur die Notenzeichen vergleichst? Lösung: Es werden im Beispiel insgesamt 11 Stellen verändert. (1. Zeile: F statt Fis, 2 Achtel statt 1
Viertel, E wird eingefügt, 2. Zeile: F statt Fis, 3. Zeile: A statt Achtel punktierte Achtel, B statt H, B punktierte Sechzentel, F statt Fis, 2 Achtel statt 1 Viertel, E wird eingefügt, 4. Zeile: A statt D.)

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Bruder Jakob                                                    

  Höre die beiden Musikbeispiele - das Volkslied Bruder Jakob und einen Ausschnitt aus einer Sinfonie von Gustav Mahler.
  Wie viele Stellen aus Bruder Jakob findest du verwandelt wieder, wenn du die Notenzeichen miteinander vergleichst?


Harmonie

Bei zwei Menschen ist Harmonie u. a. der richtige, nicht zu langweilige, aber auch nicht zu
spannungsgeladene Abstand zum Anderen. Da geht es den Tönen nicht anders als uns mit unseren Freundinnen und Freunden. Wenn wir diesen Abstand beim Musizieren verändern,
ändert sich auch die Harmonie. Ein kleines Abenteuer, das eine 4. Klasse mit Orff-Instrumenten gut hinbekommt:

Zu Hause und in der Fremde

Wir suchen unsere Töne, die wir bei diesem Spiel brauchen, auf Stabspielen. Die SchülerInnen probieren den obersten, den mittleren oder den untersten Ton aus dem ersten Dreiklang aus. Dann spielen wir gemeinsam, jeder seinen Ton mit diesem Rhythmus. Ebenso verfahren wir mit den Dreiklängen 2, 3 und 4. Schließlich probieren wir alle zusammen viermal den Rhythmus, erst mit Ton 1, dann 2, dann 3, dann 4. Das ist schon unser kleines Klangstück. Spielen wir es mal nur mit Xylofonen, mal nur mit Metallofonen usw., dann klingt es schon anders. Wenn wir es sicher spielen können, also quasi "in unserem Stück zu Hause" sind, gehen wir auf Abenteuerreise. Wir spielen unsere Klangfelder (= Akkorde = Dreiklänge), aber nur beim 1., 2. und 4. Mal. Beim 3. Mal darf jeder den Rhythmus mit irgendwelchen Zufallstönen spielen. Wie spannend, scheußlich, schön, interessant, grausig klingt das wohl? Auf jeden Fall ist es eine Abwechslung. Wir erleben dabei, wie vertraut uns festgelegte Akkorde werden können und wie anders Fremdes, Zufälliges klingt. Auf die einen wirkt es befreiend - man muss nicht einen bestimmten Ton treffen -, auf die anderen abstoßend, da sie Musik anders schöner finden. Musik ist es allemal, denn es ist rhythmisch gebunden und Zufälliges ist auch mit musikalischer Absicht eingefügt; Musik kann auch Fremdes ausdrücken. Mein Zuhause
kann sich kurzzeitig verwandeln und das ist auch in komponierter Musik oft so.

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Zu Hause und in der Fremde                                      



Wolken und Vögel - ein Bild in Schichten

Zum Abschluss dieser kleinen Verwandlungsreihe noch ein Bild. Wir brauchen ein großes Blatt und einen Tuschkasten. Wenn alles vor uns liegt, hören wir die Musik Song Of The Spirit. Sie enthält große orchestrale Bögen, die uns zu einem Wolkenbild bringen sollen.
Wir stellen uns unser Lieblingsblau vor und überlegen, ob wir weiße oder graue Wolkenberge hineinmalen möchten. Dann kommt der Gesang in einer Fantasiesprache. Beim ersten Hören versuchen wir in der Luft die Gesänge mitzumalen. Es ist nicht ganz einfach, denn die Melodieteilchen führen überraschenderweise immer wieder woanders hin. Sie sind in einem ständigen Wechsel von Dur, Moll und verminderten Akkorden, den wir jetzt nicht analysieren werden, der aber spürbar wird, wenn man ins Mitsummen gerät.
Beim zweiten Hören können wir schon beginnen, unseren Hintergrund zu malen. Wenn er
fertig ist, der Himmel und verschiedene Schichten von großen Wolken enthalten sind, lassen wir ihn trocknen und machen irgendetwas ganz anderes …
In der nächsten Stunde hören wir noch einmal die Musik und malen die Gesänge wieder in die Luft. Diesmal versuchen wir, noch mehr darauf zu achten, welche Gesänge höher und welche tiefer werden als gedacht. Beim zweiten Hören malen wir mit knappen, dünnen Strichen im Rhythmus der Musik die Gesänge als kleine Wölkchen oder als Vögel in das Himmelsbild. Die fertigen Bilder hängen wir an die Wand und verfolgen mit den Blicken beim folgenden Hören der Musik alles, was in unseren Bildern fliegt.


Musik ist Wandel

Musik verwandelt sich in der Zeit, obwohl wir sie mit mehr Wiederholungen ertragen als Sprache oder Bilder. Wir steigen nie in denselben Fluss. Zehnmal dasselbe gehört und schon ist es anders, weil wir uns verändert haben. Ob wir dabei tatsächlich unser Wesen äußerlich oder innerlich verwandeln können (und wollen), bleibt offen. Musik bietet uns die Chance dafür, wenn wir bereit sind, nicht alles beim Alten zu lassen, dazuzugewinnen, Fragen neu zu stellen, neue Perspektiven zu erlangen. Allein einen der hier beschriebenen kleinen Wege zu gehen und dabei überhaupt mit Kindern auf eine Frage zu kommen, entreißt das Tun der Beliebigkeit. Wenn wir nach Sinn von Musikunterricht suchen, dann - unter anderem - hier beim Thema Verwandlungen.