Björn Tischler / Michael Huhn
Inklusion ... aber wie?


MiG 1-2013
MiG 1-2
MiG 1
Das Vor- und Nachklatschen einfacher rhythmischer Motive als Einstimmung bringt die
Klasse in Schwung. Auch die drei Klassenmitglieder mit dem Förderschwerpunkt Geistige
Entwicklung machen begeistert mit, selbst wenn sie im Tempo hinterher hinken und teilweise überfordert sind. Ein gehörloses Kind sitzt dem Lehrer direkt gegenüber, um Mimik und Gestik gut abnehmen zu können. Das nichtsprechende Mädchen im Rollstuhl signalisiert für alle mit einem Schlag auf das Becken Anfang und Ende. Zwei Schüler mit Lernbeeinträchtigungen und emotional-sozialem Förderbedarf bleiben mit verschränkten Armen auf ihrem Platz sitzen. Erst als die kooperierende Sonderpädagogin sie in den Nebenraum mit den zahlreichen Perkussionsinstrumenten führt, lassen sie sich auf rhythmische Spiele ein, die als Vorbereitung für ein Mitspielstück dienen sollen. (siehe Unterrichtsbeispiel). Dabei ist ihnen ihr blinder Mitschüler eine große Hilfe, denn der
hat den Groove drauf. Inzwischen führt der Fachlehrer über einfache Raum- und Bewegungsformen den Aufbau des Stückes ein. In Kleingruppen werden anschließend je nach Interesse und Lernstand unterschiedliche, das Stück betreffende Aufgaben bearbeitet, in niveaugleichen oder niveaudifferenten Gruppen, bei denen den Lernenden mit Förderbedarf unterstützende MitschülerInnen und Mitschüler zur Seite gestellt werden.
So wie in dieser etwas zugespitzten Szene kann inklusiver Musikunterricht aussehen, aber auch ganz anders, sowohl von der Zusammensetzung als auch von der sonderpädagogischen Unterstützung her. Denn nicht immer ist eine (fachkundige) Doppelbesetzung gegeben.
Die schulischen Inklusionsbestrebungen sehen auf der Grundlage der UN-Konvention von 2009 nicht nur die Integration von Lernenden mit einer Behinderung in die Regelklasse der allgemeinbildenden Schule vor, sondern darüber hinaus die Veränderung bestehender unterrichtlicher Strukturen dahingehend, dass die Unterschiedlichkeit der Individuen zur Normalität wird. Das bedeutet: Die Schulklassen werden deutlich heterogener und die Herausforderungen an die Lehrpersonen wachsen durch den individualisierten Unterricht in einem erheblichen, mitunter extremen Maß.
Zudem zeigt die bisherige Praxis, dass personelle Ressourcenzuweisungen für inklusive Lerngruppen meist zuerst den allgemeinen Klassenunterricht erreichen und zuletzt den ein- oder zweistündig erteilten Fachunterricht.
Befürworter, Gegner, Skeptiker äußern sich bis heute je nach Position und Erfahrung begeistert, kritisch ablehnend oder zögerlich abwartend zur Inklusion. Das Für und Wider wird seit Jahren in verschiedensten Fachbeiträgen diskutiert. Aus bildungspolitischer Sicht geht es inzwischen nicht mehr um die Frage, ob Inklusion überhaupt sinnvoll und praktikabel sei, sondern nur noch darum, wie Inklusion im Unterricht umgesetzt werden kann. Noch gibt es nur vereinzelte Praxisberichte zum inklusiven Musikunterricht. In diesem Beitrag sollen grundlegende praxisrelevante Aspekte näher beleuchtet und exemplarisch konkretisiert werden.

Grundlegende Überlegungen

Einem inklusiven Musikunterricht seien zunächst folgende Thesen zugrunde gelegt:
Jeder Mensch ist erlebnisfähig.
Man kann nicht nicht Musik erleben.
Musik erlebt man auch ohne Wissen. Wissen aber macht Musik interessanter.
Beeinträchtigungen, Störungen, Behinderungen und kulturelle Hintergründe sind so
vielschichtig und unterschiedlich, dass sie entsprechend individuell ausgerichtete, besondere
unterrichtliche Maßnahmen erfordern.
Aus diesen Thesen ist abzuleiten, dass jeder Schüler, jede Schülerin ungeachtet einer Beeinträchtigung oder z. B. des kulturellen Hintergrundes in das musikbezogene Unterrichtsgeschehen einzubeziehen und zu fördern ist. Wie und unter welchen personellen und materiellen Bedingungen das geschehen kann oder muss, hängt von Art und Umfang der Behinderung bzw. des Förderschwerpunktes ab. Dieser kann sich beziehen auf die Sinne (Hören, Sehen), den Körper, die geistige Entwicklung, das Lernen, die emotional-soziale Entwicklung, die Sprache oder sich z. B. in Form von Autismus manifestieren. Grundlegend für die Planung von Unterricht ist zunächst die Feststellung des behindertenspezifischen Förderbedarfs. So sind für eine Schülerin, einen Schüler mit einer geistigen Behinderung andere Intentionen und musikbezogene Zugänge zu einem Lerngegenstand zu konzipieren als etwa für eine körperlich behinderte Person mit motorischen - aber nicht kognitiv-intellektuellen - Beeinträchtigungen. Ungeachtet einer Behinderung sind (bei allen Lernenden) wiederum individuelle entwicklungsspezifische Gegebenheiten im sensomotorischen, emotional-sozialen oder sprachlich-kognitiven Bereich zu berücksichtigen.
Das heißt für den Unterricht: Nicht nur Binnen-Differenzierung ist gefordert, sondern eine andere, erweiterte Konzipierung von Unterricht, die gleichermaßen Lernstil, -tempo, -disposition, -stand und -interessen unter gegebenenfalls extremen Bedingungen ins Auge fasst, bezogen auf spezifische Beeinträchtigungen wie auch auf besondere musikalische Begabungen.
Ein übergeordnetes Ziel des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen besteht darin,
Schülerinnen und Schüler an die Vielfalt des Kulturgutes Musik hörend, produzierend und
reflektierend heranzuführen. Das erweist sich immer dort als besonders erschwerend, wo die
individuellen Unterschiede innerhalb einer Lerngruppe stark variieren, z. B. von schweren
Behinderungen mit erhöhtem Assistenzbedarf bis zur musikalischen Hochbegabung und kulturell bedingter besonderer musikalischer Vorgeschichte reichen. Selbst wenn hierfür sonderpädagogische und fachliche Unterstützung zur Verfügung steht, gilt es, für die gesamte Klasse einen gemeinsamen Bezug herzustellen.
Als Bindeglied bieten sich musikbezogene Themen an, z. B. musikalische Stilrichtungen wie
Blues, Epochen wie Klassik, ethnische Aspekte wie orientalische Musikformen. Übergreifende Themen, Erscheinungen, Kontexte, Funktionen lassen sich mitunter noch mehr auf die anschaulich-konkrete Ebene führen und mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in Verbindung setzen, z. B. Werbung, Gefühle, Monster und Geister, Komödie, Natur, Technik. Anlass- bzw. ereignisbezogene Themen beziehen sich auf Feste oder (aktuelle) Ereignisse. Zu behandelnde Fragen der Musiklehre bedürfen zusätzlicher veranschaulichender Methoden und können in Themen integriert werden.
Zentral ist in diesem Zusammenhang eine sorgfältige Lerngegenstandsanalyse. Je vielfältiger
die Zugangs- und Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit dem Lerngegenstand sind, desto
individueller lässt sich auf unterschiedliche Lernstile eingehen. Diese lassen sich mit dem
Konzept der multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner in Beziehung setzen, wie an folgendem Unterrichtsbeispiel exemplarisch aufgezeigt wird.


Musik hören und sich dazu bewegen: einzeln oder in der Gruppe, für jedes Kind ist etwas dabei.


Unterrichtsbeispiel

Der Marsch aus der Suite Die Komödianten von Dmitri Kabalewski (siehe MUSIK in der
Grundschule
1-2014) als Lerngegenstand eignet sich sowohl im Hinblick auf musikalischelementares Lernen aufgrund der Kürze, des einprägsamen Melodierhythmus und des klaren formalen Aufbaus (A - A’ - B - A’’), als auch für weiterführende musikbezogene Aktivitäten und Betrachtungen. Die hier aufgeführten Lernstile
korrespondieren mit musikbezogenen Aufgaben und Aktivitäten, die wiederum jeweils niveaudifferenziert angeboten werden können.
sprachlich-linguistisch:
Melodierhythmus in Sprache (Silben, Sätze) umsetzen; Clown-Geschichte entwerfen, die der
musikalischen Form angepasst ist; Hintergrundinformationen über Werk und Komponisten
einholen;
logisch-mathematisch:
Form-Analyse über grafische, traditionelle Notation;
bildlich-räumlich:
themen-, rhythmusgebundenes, assoziatives Musikmalen; szenische (Tanz-) Darstellung;
körperlich-kinästhetisch:
Umsetzung in Bewegung, Tanz; musikalische Form als Massage erfahren, z. B. Teil A: klopfend, Teil B: streichend;
musikalisch-rhythmisch:
Melodierhythmus als Bodypercussion/mit Perkussionsinstrument; rhythmisches, tonales Mitspiel; Musizieren;
interpersonal: spezifische Erarbeitung, Gestaltungsaufgaben in niveaugleichen, -differenten Gruppen;
intrapersonal:
subjektives musikalisches Erleben: Einzelaufgaben.

Die Unterrichtsgestaltungen und -erarbeitungen können in Gruppen, Paaren, einzeln oder mit
der gesamten Lerngruppe durchgeführt werden. Denkbar ist auch das Arbeiten an (Wahl- und Pflicht-)Stationen, mit niveauspezifischen Aufgaben. Das bei den einzelnen Klassenmitgliedern unterschiedliche Lerntempo kann durch die Quantität und Komplexität der auszuführenden Aktivitäten berücksichtigt werden. Die Lerndisposition, zu der Aufmerksamkeit, Bereitschaft des Sich-Einlassens, Frustrationstoleranz, Ausdauer und physiologische Voraussetzungen zählen, bedarf besonderer Beachtung und möglicherweise eines verstärkten Einsatzes sonderpädagogischer Unterstützung, gegebenenfalls auch in getrennten Räumlichkeiten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Stand bereits erworbener Kenntnisse und Fertigkeiten,
um Unter- und Überforderung zu vermeiden. Hier bedarf es sorgfältiger Diagnostik in den
verschiedenen musikalischen Tätigkeits- und Wissensbereichen, um daran anknüpfend aufbauende Lernschritte einleiten zu können. Der Lerngegenstand sollte Möglichkeiten enthalten, die Differenzierungen (siehe Lernstile) und Elementarisierungen erlauben. Dazu sind Feinanalysen notwendig, aus denen mehr oder weniger stark vorstrukturierte Aufgaben hervorgehen. Das Auffinden von charakteristischen Grundphänomenen erlaubt es, sich Musik bereits auf sehr elementarer Ebene zu nähern.
Das Lerninteresse ist hinsichtlich der Auswahl der musikalischen Angebote von erheblicher
Bedeutung, weil es unmittelbar Auswirkungen auf die Lernbereitschaft und Motivation hat. Es kann geweckt werden, indem nicht nur musikalische Vorlieben, sondern auch persönlich
bevorzugte Lernstile berücksichtigt und behutsam erweitert werden.


Leistungsbewertung


Die Leistungsbewertung in inklusiven Klassen kommt ohne differenzierende Maßstäbe nicht
aus. Für Lernende mit Förderbedarf gelten entsprechend des zugeordneten Förderschwerpunktes Regelungen, die z. B. in Form von Nachteilausgleich in die Bewertung einfließen oder mehr die individuelle Entwicklung im Auge haben. Bei den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung erfolgen die Bewertungen zieldifferent. In der alltäglichen Bewertung von Schülerbeiträgen
kann man oft auf ein "Richtig" oder "Falsch" zugunsten eines "Wie" verzichten, welches beschreibende Vergleiche oder Unterschiede betont.


Schlussbemerkungen

Inklusiver Unterricht erfordert neue, erweiterte, vielfältige, individuumszentrierte Zugangsformen zu musikalischem Erleben und Lernen. Dies kann für alle Beteiligten bereichernd sein. Voraussetzung aber ist eine ausreichende fachlich fundierte musik-sonderpädagogische Unterstützung, deren Ausmaß sich nach der Zusammensetzung der Lerngruppe hinsichtlich der Anzahl und Assistenzbedürftigkeit von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf richtet. Wo das gegeben ist, wo zudem die Bereitschaft der kollegialen kooperativen Zusammenarbeit in Form des Team-Teaching besteht, wo materielle und räumliche Gegebenheiten auch spezielle, getrennte, individuelle oder kleingruppenspezifische Maßnahmen zulassen - dort, nur dort kann inklusiver Musikunterricht Horizonte öffnen und kreative Vielfalt sprießen lassen.